Formwerdung und Formentzug by Franz Engel Yannis Hadjinicolaou

Formwerdung und Formentzug by Franz Engel Yannis Hadjinicolaou

Autor:Franz Engel, Yannis Hadjinicolaou
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter De Gruyter
veröffentlicht: 2016-03-15T00:00:00+00:00


3. Lebensphilosophische Aspekte

Leiris’ Verweis auf die „Zirkelschlüsse“ der Schöpfung lässt sich verstehen als deutlicher Hinweis auf lebensphilosophische Ideen, die seit Jahrhundertbeginn von zahlreichen Künstlern der Avantgarde wie Miró und Hans Arp, über den Leiris im Folgejahr schrieb, aufgegriffen wurden.451 Entsprechend hat Hubertus Gassner das Motiv der Verflüssigung in Mirós Werken der späten 1920er Jahre als Ausdruck eines zutiefst vitalistisch geprägten Welt- und Lebensverständnisses sowie einer krisenhaften Männlichkeit gelesen. Insbesondere das (bei Leiris nicht abgebildete und im Wort der „Nasentrompete“ nur implizit angesprochene) Bild Pomme de terre liest Gassner als Übersetzung des heraklitischen panta rhei, indem sich die zyklische Bildstruktur mit Symbolen von Weiblichkeit, libidinöser Triebe und mit Naturelementen verbindet.449 Auch die drei Holländischen Interieurs, wie Pomme de terre in der zweiten Jahreshälfte 1928 entstanden, interpretiert der Autor als phantasmatische Darstellungen einer „omnipotenten weiblichen, den Menschen gebärenden und zugleich verschlingenden Natur“, in der „amöbenhafte, depersonalisierte Gebilde zerfließ[en] wie knochenloses und hautloses Plasma auf der Bildfläche“.453

Diesen dunkel gefärbten, exzessiv-libidinösen Vitalismus vergleicht Gassner mit der ambivalenten Haltung zur eigenen Körperlichkeit, die sich in Michel Leiris’ literarischen Selbstzeugnissen äußert, und die den Schriftsteller an anderer Stelle das Zerfließen des eigenen Körpers im Moment des Todes imaginieren lässt.451 Als Ausdruck der Krise der eigenen männlichen Subjektivität treffen sich die biomorph fließenden Deformationen im Werk Mirós so mit der Konjunktur von Metaphern des Liquiden in Leiris’ autobiografischen Schriften, wo sie auch für das Motiv der Katharsis stehen – für ein im Modus des Schreibens sich vollziehendes Streben nach Leere, das Voraussetzung für eine intellektuell wie körperlich erfahrene Lebensfülle ist.455

Demgegenüber hat Monique Renault die verstörende, „desorientierende“ Wirkung der Werke Mirós auf Leiris hervorgehoben, dessen Bild-Lektüren zugleich Bild-Beschwörungen seien, bei denen er Dinge und Wahrnehmungen im Angesicht des Werkes (hinzu-)imaginiere. Die Malerei werde vom Schriftsteller „animiert“, das Werk als „dynamischer Organismus“ begriffen, dessen „kreative Energie“ sich in exzessiven Formmetamorphosen offenbare.453

Tatsächlich berührt die Vorstellung einer potenziell permanenten Formumwandlung den Kern des ästhetischen Denkens von Michel Leiris wie des Surrealismus schlechthin und kann, wie Christa Lichtenstern dargelegt hat, im Schaffen des Autors mit dem Motiv ekstatischer Selbsterfahrung begründet werden.457 So zählt Leiris im „Dictionnaire“ der Documents im gleichen Jahr 1929 die historischen Metamorphosen (des Ovid, Apuleius u. a.) zu den „poetischsten Schöpfungen des Menschen, da ihre eigentliche Grundlage die Verwandlung ist“, und

bedauer[t] die Menschen, die nicht zumindest einmal in ihrem Leben davon geträumt haben, sich in irgendeinen der verschiedenen Gegenstände zu verwandeln, mit denen sie umgeben sind: Tisch, Stuhl, Tier, Baumstamm, Blatt Papier […]. Sie verspüren keinerlei Begehren, aus ihrer Haut zu treten […]. Ruhig in seiner Haut verbleiben, wie der Wein in seinem Schlauch, ist eine Haltung, die jeder Leidenschaft widerspricht und folglich allem, was an Wertvollem existiert.455

Das (imaginierte) metamorphotische Flüssigwerden der Formen, wie auch des eigenen Selbst, lässt sich somit als metaphorische Beschwörung einer erkenntniskritischen Metamorphose des Ichs deuten, an deren Ende die Erfahrung eines Anderen – jenseits der sichtbaren, rationalen Realität – möglich wird.



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